Der Architekt Dietrich Klose (früher Fachhochschule Hildesheim) war an der Rekonstruktion des Hildesheimer Markplatzes beteiligt und hat sich auch für den Wiederaufbau der Aschaffenburger Löwenapotheke ausgesprochen. Auf der Website, die dem Wiederaufbau des Rathauses von Halberstadt gewidmet ist, macht Klose interessante Ausführungen:

4. Warum bringt ein Wiederaufbau einen kulturellen Wert?

In Deutschland steht dem Wiederaufbau von Werken unserer Baukultur der in der Moderne - also erst in unserem Jahrhundert - entstandene übersteigerte Originalitätsbegriff entgegen, der nur dem Original, nicht aber seiner Rekonstruktion künstlerischen und kulturellen Wert zuerkennt. Die ideologische Übersteigerung führt sogar so weit, daß einige Theoretiker der Denkmalpflege und der Architektur jede Rekonstruktionsbemühung als charakterloses Unterfangen ausgeben.
Im Gegensatz zu solchen Vertretern fundamentalistischer Ideen akzeptieren aber die Bürger eine Rekonstruktion wie ein Original und identifizieren sich mit ihr als einem lebendigen wiedererstandenen Zeugnis ihrer Kultur. Als Beispiele können hier angeführt werden: in München der Wiederaufbau der Residenz und des Cuvilliertheaters, in Frankfurt die Rekonstruktion des Goethehauses und der Römerplatzbebauung, in Hannover die Wiedererrichtung der Fassade des Leibnizhauses; in Berlin der Wiederaufbau des Schauspielhauses; in Dresden die Wiederherstellung des Zwingers und der Semperoper, in Hildesheim die Wiedererstellung des Marktplatzes mit dem Knochenhaueramtshaus und schließlich die laufenden Bemühungen um die Rekonstruktion des Schlosses und der Frauenkirche in Dresden. Alle diese Beispiele können als handwerklich und architektonisch gekonnte Ergebnisse angesehen werden. Sie werden von den Bürgern als fast vollwertiger Ersatz des Originals angesehen und in einem so starken Maße angenommen wie kaum ein Bauwerk unserer Zeit. Es kann aber auch beobachtet werden, daß wiedergewonnene kulturelle Identität die Selbstsicherheit verleiht, die zur Akzeptanz zeitgemäßer Gestaltungen führt.

5. Wann ist ein Wiederaufbau keine Geschichtsfälschung?

Angesichts der offensichtlichen großen Bürgerakzeptanz eines Wiederaufbaus, durch die der übersteigerte Originalitätsbegriff in den Bereich bloßer Theorie verwiesen wird, muß man sich aber fragen, warum immer noch Politiker und Vertreter der Verwaltung jeglichen Wiederaufbau ablehnen. Prof. Dr. Jürgen Paul, Tübingen, hat angesichts der jahrelangen Diskussion um den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses alle vorgetragenen Argumente für und wider in einer aufschlußreichen Studie analysiert. Die häufigsten in Variationen vorgetragenen Argumente gegen einen Wiederaufbau waren: Man dürfe die Geschichte nicht verfälschen, die Zerstörungen seien ein Teil unserer Geschichte und es sei unehrlich, ein Bauwerk der Vergangenheit wieder aufzubauen und damit Geschichte revidieren zu wollen.
Schließlich sei unsere Zeit doch auch in der Lage, gleichwertiges in der Sprache unserer Zeit zu schaffen.
Es ist offensichtlich, daß diese Argumentation sehr stark bestimmt war von der Nachkriegssituation. Die Offenbarung der von Deutschen verübten Verbrechen während des Krieges führte zur Distanzierung von der eigenen Geschichte, in der möglicherweise Ursachen für den tiefen moralischen Sturz zu suchen seien.
Das emphatische Bekenntnis zur Moderne war eine Reaktion auf ihre Verdammung durch die Nationalsozialisten. Es war aber auch die Hinwendung zur Internationalität, gesehen als ein Bekenntnis zur europäischen Völkergemeinschaft, von der sich die Deutschen isoliert fühlten.
Schließlich hat wohl aber auch die nationale Neigung zum Grundsätzlichen zum Verdikt jeglicher Rekonstruktion geführt.
Heute ist die komplexbeladene Geschichtsablehnung einer realen Betrachtung und teilweise einem ausgesprochenen Geschichtsinteresse gewichen. Argumente gegen einen Wiederaufbau können also aus dem Geschichtsverständnis nicht mehr abgeleitetet werden. Vielmehr erahnt man die Möglichkeit, daß gerade zerstörte Zeugnisse unserer Kultur der Welt als Beispiel geistiger und ethischer Höhen in der deutschen Geschichte hätten dienen können.
Wenn heute noch "Geschichtsverfälschung" als Schlagwort gebraucht wird, ist es nur eine aus der Vergangenheit entlehnte leere Worthülle. Schließlich ist Geschichte das Ergebnis unseres ständigen Handelns und auch die Wiederaufbauten zerstörter Baukunst sind "Geschichte".
Das Geschichtsargument wird vollends fragwürdig, wenn man im Falle von Halberstadt berücksichtigt, daß von dem Rathaus noch so viel erhalten war, daß man es bei gutem Willen leicht hätte wieder herstellen können. Oder soll der schändliche Abriß nachträglich noch als geschichtsträchtige Tat gerechtfertigt werden?
Auch das Bekenntnis zur Moderne dürfte in der Zeit der Postmodeme, die mit historischen Formen spielt, kein Gegenargument gegen einen Wiederaufbau historischer Baukunst mehr sein.

6. Warum ist ein Wiederaufbau kein Disneyland?

Gegen eine Ablehnung jeglicher Rekonstruktion aus grundsätzlicher, fundamentalistischer Überzeugung kann man natürlich nicht argumentieren. Sie läßt weder das geschichtliche Identitätsverlangen, noch die Bemühung um Wahrung kultureller Zeugnisse gelten, noch sieht sie hier einen Beitrag zur Völkerverständigung, sondern stempelt solche Bemühung als Versuch ab, Trugbilder zu schaffen. Disneyland ist das Etikett, das unreflektiert einer jeglichen Rekonstruktion angehängt wird. Prof. Dr. Jürgen Paul hat auf die Unvergleichbarkeit zwischen dem Disneyland in Amerika und wiederaufgebauten Bauwerken aus Kulturepochen, die es dort nie gegeben hat [hingewiesen]. Unsere wieder errichteten Werke der Baukunst haben in unseren Städten gestanden. Sie zeugen von einer Kulturphase, die es an dieser Stelle gegeben hat und oft sind mehr oder weniger große Teile von ihnen noch vorhanden.